Ihr Lieben! Einen recht schönen Gruß aus Frankreich sendet Euch Gerd. Ihr werdet sicher erstaunt sein wenn ihr hört das ich in Frankreich bin. Wie und warum werdet ihr im Brief erfahren. Hier ist es sehr schön. Auch prächtiges Wetter so 25-30 grad Wärme. Viele Grüße an alle Euer Vetter Gerd.

Gerd schlug die Bettdecke beiseite. Er hielt kurz inne und schaute zum Wecker, wie die leuchtenden roten Zahlen von 05:59 auf 06:00 wechselten und das Piepen begann. Er drückte den Wecker aus, Schlupfte in seine karierten Pantoffeln und ging zur Toilette. Merkwürdig; die Klopapierrolle war fast leer und es war nur noch eine in der Schublade. Sonst reichte die Packung doch genau drei Wochen. Ach ja, das Treffen mit Peter und Karl. Sie wollten unbedingt zum Chinesen. Das Essen war ihm nicht bekommen. Er drückte die Klospühlung.
Beim Händewaschen schaute er sich im Spiegel an. Am Donnerstag war der Termin bei Frau Winter. Er hasste es, wenn die Haare so lang waren, aber bei dem Gedanken, noch öfter zum Friseur zu gehen wurde ihm auch unwohl. Am Ende würde Frau Winter denken, er würde ihretwegen öfter kommen. Er war jedesmal froh, wenn sie den schwarzen Umhang mit Schwung wegnahm und er aus dem Stuhl aufstehen konnte. Die monologartige Konversation der hageren Frau strengte ihn an. Sicher, er hätte sich einen anderen Friseursalon suchen können. Aber nun ging er schon sein halbes Leben dort hin. Und was hätte er ihr sagen sollen, wenn sie sich auf der Straße begegnet wären, warum er nicht mehr käme? Mit dem Haarschnitt war er ja zufrieden.
Er ging in die Küche und holte die Butter aus dem Kühlschrank. Dann machte er sich einen Tee. Schwarzen Tee, wie jeden morgen. Mit einem kleinen Schuss Milch. Die Milch musste vorher in die Tasse. So machen es die Engländer, hatte seine Mutter immer gesagt. Bis der Tee soweit abgekühlt war, dass man ihn trinken konnte, hatte die Butter die richtige Temperatur erreicht, um die Scheibe Brot zu beschmieren. Er strich eine dünne Schicht Zuckerrübensirup drauf. Er wechselte immer ab zwischen Zuckerrübensirup, Kirschmarmelade und Zwetschenmuss. Ein Topf Zuckerrübensirup reichte für 5 Wochen. Die Kirschmarmelade war ein kleineres Glas; das reichte für 2,5 Wochen. Das Zwetschenmuss lies sich schlecht verteilen, wegen der großen Fruchtstücke, deshalb war es am schnellsten leer, aber er möchte den Geschmack einfach so gerne. Es erinnerte ihn an seine Oma, die einen großen Zwetschenbaum im Garten hatte und unzählige Gläser Muss eingekocht hatte.
Er stellte das Geschirr in die Spülmaschine, wischte den Tisch und die Arbeitsplatte ab und ging erneut ins Badezimmer, um sich die Zähne zu putzen. Diese Haare! Auf einmal stieg eine derartige Wut in ihm auf, wie er sie noch nie gefühlt hatte. „Hast dich kein bisschen verändert. Siehst immer noch aus, wie beim letzten Besuch und dem davor und dem davor“ hatte Onkel Theo gesagt und alle hatten gelacht. Und er hatte mitgelacht, wie immer. Weil er nicht verstand, was sie damit meinten und keine Lust hatte zu fragen. Aber dieses Mal verebbte sein Lachen und hinterließ einen faulen Geschmack im Mund, der sich die Speiseröhre runter in den Magen bahnte.
Er wischte sich den Mund ab, ging in den Flur, wo sein Mantel hing und die Aktentasche bereit stand. Er nahm den Schlüssel vom Haken, trat aus der Wohnung und schloss hinter sich ab. Er ging die Treppen herunter, trat aus der Haustüre auf die Straße und bog nach links ab. Obwohl seine Füße gewohnt waren, den kurzen Weg zu Fuß rechts runter die Karl-Friedrich-Straße zu gehen, gingen sie einfach in die andere Richtung. In seinem Kopf war auf einmal Chaos. So richtig konnte er sich das alles nicht erklären, wenn er später an diesen Moment zurückdachte. Er Lief zum Bus, fuhr zum Bahnhof, kaufte sich ein Ticket und saß im Zug nach Nancy. Umstieg in Kassel Wilhelmshöhe und Straßbourg. Fahrtzeit 7:26h.
