Poststempel 1.5.51
Liebe Kinder. Ich habe enorm viel Schönes gesehen und kann Euch viel erzählen. Morgen treten wir die Heimfahrt an. Heute waren wir in Versailles. Hoffentlich werdet Ihr gut ohne mich fertig + vertragt Euch gut. Herzliche Grüße Eure Mutter. Auch von mir einen Gruß Onkel Hans
Sie hatte ein schlechtes Gewissen. Warum hatte sie ein schlechtes Gewissen? Weil sie einmal an sich gedacht hatte? Nur an sich selbst. Zu Hause schien sie zu ersticken. Ihr fehlte die Luft zum Atmen. Er hatte gefragt, ob sie mitkommen wolle und sie hatte ja gesagt. Nach langem zögern. Was war so schlimm daran? Dass es ihre bisherigen Entscheidungen alle in Frage stellte? Warum sie jeden morgen aufstand. Frühstück für die Kinder machte. Das Haus putze. Die Kleider wusch. Ihre Rolle als treue Witwe erfüllte. Aber Kurt war weg. Und er würde nie wieder kommen. Sie war nicht nur Mutter, sondern auch Frau. Das macht man nicht, sagte eine Stimme in ihr. Man lässt seine Kinder nicht im Stich. Doch, das macht man, hatte er widersprochen. Männer machen das ständig. Warum nicht du? Warum glaubst du keine eigenen Bedürfnisse haben zu dürfen? Und es hatte diese schwere Last von ihren Schulter genommen. Wenigstens für einen Moment. Und dieses Gefühl hatte sich in Paris verselbstständigt. Es war so viel größer geworden, als sie selbst. Wie konnte sie jetzt zurück? In dieses Leben, das ihr jetzt wie ein Gefängnis vorkam. Wie sollte sie zurück, wo sie ihre Sehnsüchte gehört hatte? Wie konnte sie nicht zurück zu ihren Kindern, die sie über alles liebte?